Schwierige Rettung aus dem Sudan
Eine Tauchsafari im Sudan gilt heute immer noch als Geheimtipp: Während die ägyptischen Strände und Tauchgebiete des Roten Meeres eher altbekannt und Großfischbegegnungen seltener geworden sind, trifft auf den Sudan das Gegenteil zu. Früher war eine Reise in den Sudan nicht nur mit großen Mühen, sondern auch mit etlichen Gefahren verbunden, da viele Jahre ein brutaler Bürgerkrieg in dem Land im Süden des Roten Meeres tobte. Heute ist die Anreise, die meist über Dubai oder Ägypten erfolgt, relativ einfach und weniger kompliziert.
Auch Sonja aus der Nähe von München wollte das Tauchmekka des Roten Meeres erkunden und bucht Anfang 2016 zusammen mit Freunden eine siebentägige Tauchsafari. Sonja wird nicht enttäuscht. Im März 2016 erlebt die mit über 800 Tauchgängen erfahrene Taucherin im kristallklaren Wasser drei wunderschöne Tauchtage. Auch der vierte Tag beginnt vielversprechend. Gleich nach dem Aufstehen geht es für den ersten Tauchgang ins Wasser. Nach einem ausgiebigen Frühstück legt sich die 55-Jährige für ein kleines Nickerchen auf's Sonnendeck bevor die Schiffsglocke zum zweiten Tauchgang ruft. „Beim Aufstehen war mir leicht schwindlig und mein linker Arm hat ein wenig gekribbelt. Darüber Gedanken gemacht habe ich mir aber nicht, da es mit Mitte 50 auch auf der heimischen Couch liegend manchmal kribbelt,“ erinnert sich Sonja.
Der nächste Tauchgang ist ebenso schön wie der erste des Tages. Beide Tauchgänge sind über 30 Meter tief, die Tauchbedingungen gut. „Nach der Schwindelattacke am Morgen fühlte ich mich im Wasser wieder wohl, mir ging es gut,“ so Sonja. Nach dem Auftauchen verspürt sie allerdings Übelkeit und denkt dabei zunächst an Seekrankheit: „Mir war so schlecht, dass ich das Mittagessen ausfallen ließ und mich auch übergeben musste.“ Auch an der frischen Luft wird es nicht besser. Im Gegenteil: Nachdem sich Sonja kurz auf dem Sonnendeck hinsetzt, kann sie plötzlich nicht mehr aufstehen: Ihre Beine fühlen sich an wie Gummi, die Kraft weicht aus ihren Extremitäten und sie knickt weg.
„Ist das ein Tauchunfall oder Schlaganfall?“
Mitreisende reagieren sofort und geben ihr 100%igen Sauerstoff zum Atmen. Sie nehmen auch direkt über die aqua med diveline Kontakt zum Bremer Tauchernotruf auf. Sonja hat dort seit vielen Jahren eine dive card, musste Hilfe aber bis dato nie in Anspruch nehmen.
In Deutschland ist es später Freitagnachmittag als der Notruf aus dem Sudan bei aqua med in Bremen eingeht. Sonjas Mittaucher beschreiben dem diensthabenden Arzt die Lage vor Ort. Schnell wird der Verdacht auf eine DCS gestellt. Trotzdem muss aber noch eine weitere Differentialdiagnose in Betracht gezogen werden, da Sonjas Mutter und Großmutter beide an einem Schlaganfall gestorben sind.
Aufgrund der von Sonjas Reisebegleitern beschriebenen Symptome kann auch bei der Münchnerin ein Schlaganfall nicht ausgeschlossen werden. Höchste Priorität hat zunächst aber die Stabilisierung von Sonja. Die wichtigste Erstmaßnahme wurde bereits ergriffen: die Gabe von Sauerstoff in größtmöglicher Konzentration. Auf dem Safariboot ist für die Sauerstoffgabe zwar kein modernes Demandsystem vorhanden, dafür aber ein einfaches Maskensystem und ausreichend Sauerstofflaschen. Der aqua med Arzt rät, die Sauerstoffgabe ununterbrochen fortzusetzen und Sonja zusätzlich viel Wasser zu trinken zu geben. Eine Rettung direkt vom Schiff, z. B. durch Search & Rescue, ist nicht möglich. Im gesamten Sudan gibt es kein funktionierendes Rettungswesen. Aufgrund der äußerst schwierigen Verhältnisse vor Ort wird bei aqua med schnell ein vielköpfiges Krisenteam gebildet, das sich ausschließlich um Sonja kümmert. Der nächste Hafen, den das Boot ansteuern kann, ist Port Sudan. Die Fahrtzeit dorthin beträgt rund sechs Stunden. Es wird beschlossen, die Tauchsafari sofort abzubrechen und den Hafen anzusteuern.
Bei aqua med weiß man, dass die medizinischen Möglichkeiten vor Ort sehr eingeschränkt sind. In Port Sudan selbst gibt es zwar einige Krankenhäuser, keines bietet jedoch die Möglichkeit der dringend benötigten Druckkammerbehandlung.
Hilfe bei nicht vorhandenem Rettungssystem
Noch während das Schiff auf dem Weg zum Hafen ist, kontaktieren die aqua med Ärzte zusätzlich einen ortsansässigen Arzt und bitten ihn, für die Ankunft von Sonja eine Rettungskette zu organisieren und bei der weiteren Koordination zu helfen. Zeitgleich nimmt das aqua med Medical Board Kontakt zur Deutschen Botschaft in der weit entfernten Hauptstadt Karthum auf. Zusammen mit den Botschaftsmitarbeitern besprechen die Mediziner die weiteren zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Auch in den Krankenhäusern anderer sudanesischer Städte gibt es keine Druckkammern.
Im Nachbarland Ägypten würden zwar behandlungsbereite Kammern zur Verfügung stehen, aber Sonja mit dem Ambulanzflugzeug auszufliegen ist leider keine Option. Die Vorbereitung hierfür benötigt bis zu drei Tage und die Ärzte befürchten aufgrund des erniedrigten Kabinendrucks, der auch an Bord eines Ambulanzflugzeugs besteht, eine weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Taucherin. Ein Transport auf dem Landweg wird kurz diskutiert, aber alleine eine zwingend notwendige Genehmigung für einen Landtransport zu erhalten würde im Sudan Tage dauern.Von den Helfern vor Ort erfahren die aqua med Ärzte von einer Ölfirma in der Nähe von Port Sudan, die eine Druckkammer betreiben soll. Während aqua med mit Hilfe der Deutschen Botschaft versucht, Kontakt zu der Ölfirma herzustellen, wird parallel geprüft, ob Sonja auch auf ein Lazarettschiff der Bundeswehr gebracht werden könnte. Im Rahmen der Gespräche mit dem deutschen Flottenkommando wird aber schnell klar, dass eine andere Möglichkeit gefunden werden muss: Ein geeignetes Lazarettschiff steht momentan nicht zur Verfügung und eine funktionsfähige Druckkammer wäre nur in einer französischen Militärbasis ohne Krankenhaus im etwa 2.000 Kilometer entfernten Djibouti vorhanden. Der Transportweg dorthin ist allerdings nicht nur viel zu weit, sondern wird aufgrund der politischen Lage im Sudan und den südlichen Nachbarländern als zu gefährlich eingestuft.
Während in Deutschland und vor Ort weiter nach Behandlungsmöglichkeiten für die verunfallte Taucherin gesucht wird, legt das Safariboot kurz vor Mitternacht Ortszeit im Hafen von Port Sudan an. Sonja geht es trotz kontinuierlicher Sauerstoffgabe immer schlechter. Die Lähmungserscheinungen an den Armen und Beinen haben zugenommen und auch die Kontrolle über ihre Blasen- und Darmtätigkeit hat die Münchnerin verloren. An Land gebracht werden kann Sonja aber vorerst nicht. Trotz intensiver Bemühungen findet das aqua med Krisenteam für diese Nacht kein aufnahmebereites Krankenhaus. Auch die von Port Sudan etwa 40 Kilometer entfernte Ölfirma lehnt eine Behandlung ab. Dort befindet sich zwar eine funktionsfähige Druckkammer, allerdings sind weder ein Arzt noch eine geeignete medizinische Einrichtung vorhanden. Es bleibt zunächst keine andere Wahl, als die Sauerstoffgabe an Bord fortzuführen.Am nächsten Morgen gibt es endlich gute Neuigkeiten. Sonja kann in ein Krankenhaus in Port Sudan gebracht werden. Dort wird die medizinische Versorgung optimiert, selbst eine Computertomographie des Gehirns kann durchgeführt werden. Es bestätigt sich die Verdachtsdiagnose eines schweren Tauchunfalls (DCS II), ein Schlaganfall kann im Rahmen der durchgeführten Diagnostik ausgeschlossen werden. Das Anfertigen eines MRTs ist leider nicht möglich. Hiermit ließen sich Begleitverletzungen am Rückenmark feststellen, womit man die Schwere des Tauchunfalls besser einschätzen und eine Prognose für den weiteren Verlauf geben könnte.
Eine Druckkammer wird gefunden
Während die Münchnerin im örtlichen Krankenhaus versorgt wird, meldet sich am Samstagvormittag die Deutsche Botschaft mit guten Nachrichten.
Über direkte Kontakte mit der sudanesischen Regierung ist es den Botschaftsmitarbeitern gelungen, Verbindung mit einem Militärkrankenhaus in Port Sudan aufzunehmen. Dieses Krankenhaus verfügt über eine funktionsfähige Druckkammer! Die Ärzte von aqua med rufen sofort in der Klinik an und stimmen mit dem diensthabenden Militärarzt das weitere Vorgehen ab. Eine Möglichkeit, Sonja direkt im Militärkrankenhaus stationär aufzunehmen, besteht zwar nicht, aber zumindest kann nun die dringend benötigte Druckkammerbehandlung durchgeführt werden.
Sonja wird von den Helfern vor Ort vom Krankenhaus direkt in die Kammer gebracht und ihr Zustand kann im Rahmen der etwa sechsstündigen Notfallbehandlung stabilisiert werden. „Aber auch nach dieser Therapie war ich unfähig, alleine zu laufen,“ erinnert sich Sonja. „Daher war gleich für den nächsten Tag eine weitere Behandlung geplant.“ Vor allem bei einem schweren Tauchunfall ist es nicht ungewöhnlich, dass Symptome nach einer ersten Druckkammerbehandlung fortbestehen und weitere Behandlungen angeschlossen werden müssen. Nach der zweiten Kammertherapie zeigt sich eine erste Besserung: Von beiden Seiten gestützt kann die Münchnerin erste Schritte laufen. „Selbstständiges Gehen war aber weiterhin absolut nicht möglich.“ Auch die Blasenkontrolle macht Sonja weiterhin zu schaffen. Ab dem dritten Behandlungstag steht sie vor einer zusätzlichen Herausforderung. Da ihre Tauchgruppe nach Hause fliegen muss, ist Sonja plötzlich auf sich alleine gestellt. „Meine Angst war sehr groß, so alleine und bewegungsunfähig in einem fremden Land. Ich hatte zwar Kontakt zu meinen Freunden, zu aqua med und zur Deutschen Botschaft, aber ich fühlte mich dennoch unsäglich alleine.“ Neben der täglichen Durchführung der Druckkammertherapie schaffen es die aqua med Ärzte mit Unterstützung des sudanesischen Militärarztes sogar, eine Physiotherapie einzuleiten. Diese vor allem nach einem schweren Tauchunfall mit ausgeprägten Lähmungserscheinungen so schnell wie möglich zu beginnen ist ebenso wichtig wie die Druckkammerbehandlung selbst. Vor allem wenn beides in Kombination durchgeführt wird, besteht eine reelle Chance, dass Sonja ihr Leben weiterhin selbstständig und ohne große Einschränkungen fortführen kann. Die Mitarbeiter vor Ort organisieren neben den Fahrten vom Krankenhaus in die Militärkammer und zurück zusätzlich Sonjas Versorgung mit Essen und Trinken. „Eine Versorgung wie wir sie aus Deutschland gewohnt sind gibt es nicht,“ berichtet die Taucherin. „Keine Hilfe durch eine Krankenschwester bei der Verpflegung oder beim Waschen.“
Sonjas Zustand stabilisiert sich während der vier weiteren Behandlungstage, sodass sie mit Unterstützung wieder kurze Strecken laufen und stabil sitzen kann. Auch die Blasenkontrolle gelingt ihr immer besser und der Katheter kann entfernt werden. Die Gefühlsstörungen an Armen und Beinen sind zwar noch ausgeprägt, lassen insgesamt jedoch ebenfalls leicht nach.
Organisation der Rückreise nach Deutschland
Neben der medizinischen Versorgung vor Ort kümmert sich das aqua med Team zeitgleich um die frühestmögliche Verlegung nach Deutschland. Sieben Tage nach dem Unfall ist Sonja endlich stabil genug, um in die berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau ausgeflogen zu werden. Vom Münchner Flughafen aus wird sie direkt mit dem Rettungswagen dorthin gebracht. Die dort weiter behandelnden Ärzte sind von den aqua med Ärzten frühzeitig über Sonjas Fall unterrichtet worden und konnten auf diese Weise die weitere Behandlung optimal planen.
In der Murnauer Klinik wird auch ein MRT der Wirbelsäule durchgeführt. Hier zeigen sich Schädigungen im Bereich des Rückenmarks, die typisch für eine durch Stickstoffübersättigung hervorgerufene Verletzung sind. Sonja hat während ihrer Tauchgänge im Sudan keine Tauchverstöße begangen und ist auch immer in der Nullzeit geblieben. Durch die vielen und auch tiefen Wiederholungstauchgänge hat sich ihr Körper aber dennoch so sehr mit Stickstoff aufgesättigt, dass dieser am Ende durch eine Bläschenbildung die Sauerstoffversorgung von Sonjas Nervenbahnen unterbrach.
17 weitere Druckkammertherapien werden von den BG-Ärzten noch durchgeführt, während die Physiotherapie in Kombination mit Ergotherapie ebenfalls ohne Unterbrechung fortgeführt wird. Während der Behandlung bessert sich Sonjas Zustand weiter und so wird sie einen Monat später aus der BG-Klinik entlassen. Dem Krankenhausaufenthalt schließt sich aber direkt eine mehrwöchige Rehabilitation in der Fachklinik bei Füssen an. „Die anfänglichen Fortschritte wurden immer kleiner und damit auch meine Hoffnung, ganz gesund zu werden. Ich realisierte langsam was es bedeutet, eine Rückenmarksverletzung zu haben,“ erinnert sich Sonja. Völlig beschwerdefrei ist die lebensfrohe Münchnerin bis heute nicht.
„Danke an die Helfer!“
„Dieser schwere Tauchunfall hat mich zwar nicht mein Leben, jedoch einiges an Lebensqualität gekostet. Mit den Einschränkungen, die verblieben sind, kann ich (aber) gut leben. Aufgeben werde ich nie und trainiere täglich und habe ca. 8 Stunden in der Woche feste Therapien. Alles in allem noch einmal gut gegangen. Dank der unermüdlichen Hilfe von aqua med während und nach dem Unfall. Sie gaben mir Halt und immer wieder Hoffnung gut nach Hause zu kommen, ohne sie wüsste ich nicht wie es geendet hätte. Auch mit meinem Münchner Taucharzt war ich ständig in Kontakt und natürlich meine Vorarlberger Tauchfreunde, die sich so lange es ging vor Ort um mich gekümmert haben. Danke vielmals an euch alle! PS: Ich war schon wieder mal unter Wasser...“